
LESEPROBE BAND 1;

2. Kapitel
Diani Beach, Nähe Ukunda, Kenia.
Niemandem fiel der unscheinbare hagere Mann mit den langen braunen Haaren und dem Vollbart auf, der im Simba Gate Hotel eincheckte, gehörte er doch zu den annähernd zwei Dutzend Gästen, die an diesem Tag ebenfalls aus Frankfurt kommend in Mombasa gelandet waren. Mit Kleinbussen waren sie von dort aus direkt an den Diani Beach weiterbefördert und auf die jeweiligen Feriendomizile verteilt worden.
Andreas Maier war Mitte zwanzig und mitnichten so unauffällig, wie er wirkte. Denn er besaß einen weiteren Namen, den nur Eingeweihte kannten: Ahmed Kalif. Er war ein deutscher Konvertit, dessen konservatives Islambild sich in der al-Muhajirin-Moschee in Bonn entwickelt hatte. Bei den Verfassungsschützern galt die Moschee in der Nähe des Rheinufers bis 2010 als ein Hort von Salafisten, als ein Treffpunkt terroristischer Zellen. Hier kam Maier erstmals mit Ex-Somalis in Kontakt, deren Gruppe sich die „deutsche Shabaab“ nannte. Von da an gab es nur noch ein Ziel für ihn: sich der somalischen Terrororganisation anzuschließen. Ein Gotteskrieger zu werden, ein Mudschahid, der in Somalia, dem Land seiner Träume, leben konnte wie ein rechtschaffener Muslim. Das war im Westen, in Europa, in Deutschland aufgrund der Anfeindungen seit 9/11 nicht mehr möglich. So war es auch nicht verwunderlich, dass ein Recruiter, der in den Moscheen nach vielversprechenden Kandidaten Ausschau hielt, auf ihn aufmerksam geworden war und ihn sozusagen an seine Glaubensbrüder weitervermittelt hatte. Schließlich war er vor drei Jahren zum ersten Mal nach Nairobi geflogen. Im somalischen Eastleigh-Viertel der kenianischen Hauptstadt traf er auf seinen Schleuser, der ihn zunächst nach Garissa in die Provinz North-Eastern brachte. Von dort aus ging die Reise weiter ins achtzig Kilometer entfernte Flüchtlingslager Dadaab und von da aus nach Dobley auf die andere Seite der Grenze. In einem schäbigen Farmhaus, das einst von Weißen bewohnt gewesen war, wurde er tagelang eingesperrt und verhört, um auszuschließen, dass er ein Spion war. Erst dann erhielt der deutsche Konvertit ein umfassendes Terrortraining. So wurde er in einem geheimen al-Shabaab-Camp zum Scharfschützen ausgebildet. Zudem absolvierte er ein Sprengstoff- und Granatwerfertraining, Kurse in islamischem Recht sowie Korankunde, und wurde im Bau von Sprengsätzen und Sprengfallen unterwiesen. Danach war er reif für praktische Operationen, zu denen Terroranschläge auf zwei christliche Kirchen in Garissa mit sechzehn Toten und vierzig Verletzten gehörten, ebenso ein Bombenanschlag auf das Regierungsviertel von Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, und ein Handgranatenangriff auf das Restaurant La Chaumière in Djibouti-City.
Immer wieder reiste Maier alias Ahmed Kalif als deutscher Staatsbürger in seine Heimat zurück. Offiziell hatte er sich keinesfalls etwas zuschulden kommen lassen; bei den hiesigen Behörden lag nichts gegen ihn vor. So konnte er unbehelligt als Mittelsmann zwischen Exil-Mudschaheddin-Somali und der Basis der al-Shabaab in Somalia fungieren, überbrachte Befehle, Strategiepläne und vor allem Geld aus deutschen Unterstützerkreisen.
Nun war Andreas Maier erneut in Kenia, dieses Mal jedoch mit einem ganz speziellen Auftrag. Nachdem er im Simba Gate eingecheckt hatte, begab er sich sofort auf sein Zimmer. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Noch bevor er sein notdürftiges Gepäck im Schrank verstaut hatte, klingelte sein Billig-Handy. Es war sein Kontaktmann, der ihn bereits erwartete. Der Deutsche verließ den Gästeraum, durchquerte die Lobby und ging durch den parkähnlichen Palmengarten hinunter zum feinsandigen Strand. Vor wenigen Wochen war er schon einmal hier gewesen, um die Lage zu checken. Das Hotel wurde zwar von einigen Security-Leuten bewacht, wie jedes andere an der Küste auch, doch stellten sie kein Problem dar. Bei ihnen handelte es sich ausschließlich um mit Holzstöcken oder Gummiknüppeln bewaffnete Einheimische in Fantasieuniformen, unterbezahlt und mit schlechter Arbeitsmoral. Sollte es Schwierigkeiten geben, halfen ein paar Shilling.
Eine angenehme Brise wehte über das türkisblaue Wasser des Indischen Ozeans, streichelte Maiers schweißnasses Gesicht und ließ sein langes braunes Haar flattern. Unter Schatten spendenden Bastschirmen stand eine Liege neben der anderen, auf denen sich bleiche oder von der Sonne verbrannte Touristen rekelten. Maier hatte für sie nur einen abfälligen Blick übrig. Linker Hand bedrängten sogenannte Beach Boys die Hotelgäste, sobald sie den geschützten Bereich verließen, um im lauen Meerwasser zu schwimmen oder einen Strandspaziergang zu machen.
Beach Boys lebten zumeist in unmittelbarer Nähe der Touristenhotels und waren in der Regel in Gangs organisiert. Sie teilten die jeweiligen Strandabschnitte in verschiedene Reviere ein, um sich bei ihren Geschäften nicht in die Quere zu kommen. Einnahmen erzielten sie mit dem Verkauf von Kunstgegenständen, Holzschnitzereien, bunten Tuchstoffen, Safaris oder Tauchausflügen. Einige spezialisierten sich jedoch darauf, ältere Touristinnen anzubaggern und ihnen dabei die große Liebe vorzugaukeln. Sie besaßen das Talent, die gut betuchten einsamen Frauenherzen mit ein paar schmeichelnden Komplimenten und Zärtlichkeiten abzuzocken. Das Geschäft mit der Gefühlskriminalität boomte und war für die Täter sehr einträglich.
Einer dieser Beach Boys war Maiers Kontaktmann: Ibrahim Said, ein Exil-Somali. Tagsüber verkaufte er bunten Perlenschmuck an einem roh gezimmerten Holzstand unweit des Hoteleingangs. In Wirklichkeit aber arbeitete er für die al-Shabaab an der Südküste Kenias. Als er den Deutschen entdeckte, der zielstrebig durch den Sand auf ihn zukam, verzog ein kurzes Lächeln sein ebenholzschwarzes Gesicht. Allerdings nicht aus sentimentaler Wiedersehensfreude, sondern vor Erleichterung, dass es Ahmed Kalif ohne Probleme hierher geschafft hatte. Nun stand ihren weiteren Plänen nichts mehr im Weg.
Said begrüßte den hageren Mann, der ihn fast um Haupteslänge überragte, mit einem festen Handschlag.
„Habari za alasiri, Ibrahim – Guten Tag, Ibrahim!“, sagte der Deutsche in fließendem Suaheli, das er perfekt beherrschte. „Jambo Andreas, nimefurahi kuonana nawe – Hallo, Andreas, freut mich“, antwortete der Mittelsmann kurz angebunden. Tunlichst vermied er es, sein Gegenüber mit Ahmed Kalif anzusprechen, um dessen Tarnung nicht durch eine solche Unachtsamkeit auffliegen zu lassen.
Nach diesen nichtssagenden Worten zogen sich die beiden unterschiedlichen Männer hinter eine Gruppe schattenspendender Kokospalmen zurück, die den weißen breiten Sandstrand säumte. Für zufällige Beobachter sah es so aus, als würden sie miteinander feilschen.
„Wann übergibst du mir das Moto?„, fragte Maier und sah den Schwarzen fest an.
„Heute Abend“, antwortete Ibrahim Said. „Nach Sonnenuntergang. Gleiche Stelle.“
Die beiden verabschiedeten sich gleich darauf wieder voneinander. Scheinbar ziellos schlenderte Andreas Maier dann am Strand entlang. Unbarmherzig brannte die Sonne auf ihn herab, doch er spürte die Hitze nicht. Auch das Rauschen des Meeres, wenn sich die Wellen am Ufer brachen, vernahm er nicht bewusst. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Beim Moto. Das war der Suaheli-Begriff für Feuer. In diesem Fall handelte es sich aber lediglich um eine Tarnbezeichnung. Denn mit Moto war nichts anderes als eine Sprengstoffweste gemeint!
*
Seit fünfzehn Jahren leitete Carsten Heiniger das Simba Gate Hotel in der Nähe von Ukunda. Der waschechte Kölner und Tourismusmanager hatte die Auswanderung an die Südküste Kenias nie bereut. Zum einen, weil er so dem tristen Wetter in Deutschland entkommen war. Zum anderen, weil er sich den lang gehegten Traum eines eigenen Hotels unter Palmen erfüllen wollte.
Bei den Urlaubern war das Simba Gate sehr beliebt; in den Saisonzeiten war es immer komplett ausgebucht. Vor allem deutsche, britische und amerikanische Gäste genossen den perfekten Service, die stilvollen Zimmer sowie den traumhaften Strandabschnitt mit dem weitläufigen Palmengarten.
Am weiten Horizont war soeben die Sonne in rotgoldenem Glanz über dem Indischen Ozean untergegangen. Nun herrschte tiefste Nacht, die das funkelnde Sternenmeer noch mehr zur Geltung brachte.
Carsten Heiniger lächelte seiner hübschen einheimischen Frau Nahla zu, die hinter der Rezeption stand. Annähernd zehn Jahre waren sie nun schon verheiratet, auch wenn sie vom Alter her seine Tochter hätte sein können. Heiniger war fünfundfünfzig, Nahla gerade mal achtundzwanzig.
Mit festen Schritten ging der Direktor des Simba Gate von der Hotelhalle in den Speisesaal. Artig grüßten die Angestellten ihren Boss, sobald sie ihm über den Weg liefen.
Heiniger war mittelgroß, blond, mit stets freundlichem Gesicht. Es schien fast so, als würde er aus purer Lebensfreude bestehen. Sein Enthusiasmus war ansteckend.
Um diese Zeit war das Restaurant gut besucht. Die meisten Gäste waren erst vor Kurzem vom Strand oder einem Ausflug zurückgekehrt und hatten sich für das Dinner schick gemacht. Bei den Damen sah der Hotel-Direktor elegante Kleider und knappe Hotpants, bei den Männern adrette Hemden und einfarbige Stoffhosen.
Die Einrichtung des großzügig gebauten Restaurants mit den Holztäfelungen war in dunkelrotem Mahagoni gehalten und zum Meer hin offen. Über den weiß gedeckten Tafeln surrten Ventilatoren, die nicht nur die Abendhitze, sondern auch die Moskitos vertrieben, die mit dem Einbruch der Dunkelheit wie eine biblische Plage über die Gäste herfielen.
Die hinteren Tische waren zu einer langen Reihe zusammengeschoben, an denen um die fünfzig Männer, Frauen und Kinder saßen, ausschließlich Amerikaner. Sie feierten an diesem Abend irgendeinen nationalen Feiertag. Alle waren gut drauf, und sie erwiesen sich als ziemlich trinkfest, die Mädchen und Jungen natürlich ausgenommen, die an ihren Cola-Flaschen nuckelten. Dennoch hielten sich die Feiernden in ihrer Lautstärke zurück, um die anderen Gäste nicht zu stören. Trotz des beträchtlichen Alkoholkonsums pöbelten sie nicht herum, sondern flirteten allenfalls mit einer der hübschen kenianischen Kellnerinnen, deren gazellenhafte Figuren jedes Männerherz höherschlagen ließen.
„A very good party and an excellent service, Sir!“, lobte einer der US-Boys, als er, von der Toilette kommend, wieder auf die Tische im hinteren Bereich des Speisesaals zusteuerte.
Carsten Heiniger bedankte sich dafür mit einem Lächeln. Dann ging er geradewegs auf die Amerikaner zu, blieb vor ihnen stehen und wünschte auf Englisch einen schönen Abend. Mit fast infernalischem Applaus quittierten sie seine freundlichen Worte.
Als Heiniger an der Mahagonibar vorbeikam, hinter der der Barkeeper vor lauter Cocktailmixen nicht mehr nachkam, fiel ihm ein Mann auf, der ebenfalls auf die Tische mit den Amerikanern zusteuerte. Er war ihm beim Einchecken über den Weg gelaufen, und er glaubte, ihn schon vor Wochen einmal gesehen zu haben. Ein Landsmann.
„Guten Abend, Herr …“, begann Heiniger, aber der hagere bleiche Mann mit den langen braunen Haaren reagierte nicht darauf, sondern ging zielstrebig weiter. Erst jetzt bemerkte der Hoteldirektor, dass die schäbige, zerfranste und ausgebeulte Jacke, die der Deutsche trug, einige Nummern zu groß schien. Vorne und hinten stand sie seltsam ab. Darunter zeichneten sich rechteckige Pakete ab, die in einem Gürtel steckten.
Carsten Heinigers ungutes Gefühl steigerte sich zur Panik, als er schließlich erkannte, was das war!
Im selben Moment, als ein schriller Warnschrei über seine Lippen gellte, bewegte der Hagere kaum merklich die Finger seiner rechten Hand. Noch bevor die Gäste überhaupt begriffen, um was es ging, explodierte der Körper des Deutschen in einer ohrenbetäubenden Detonation. Der Sprengstoff in seiner Weste war mit Nägeln, Schrauben und Bolzen versetzt und zerfetzte alles und jeden in einem Umkreis von fünfzig Metern. Abgetrennte Köpfe und Gliedmaßen wirbelten durch den Rauch und die Gebäudetrümmer. Blut und Hirnmasse spritzten umher. Verbrannte, verkohlte Leiber sanken wie aus Gummi in sich zusammen.
Andreas Maier alias Ahmed Kalif hatte seinen letzten Auftrag ausgeführt.

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